Nächste
Vorherige
Objekte

Article

Europas Landwirtschaft: Wie machen wir Nahrungsmittel bezahlbar, gesund und „grün"

Sprache ändern
Article Veröffentlicht 10.01.2014 Zuletzt geändert 11.05.2021
Photo: © G. Karadeniz / EEA
Um unseren Nahrungsmittelbedarf zu decken, stützt sich Europa auf eine intensive Landwirtschaft, die sich auf die Umwelt und unsere Gesundheit auswirkt. Ist Europa in der Lage, auf eine umweltfreundlichere Nahrungsmittelproduktion umzusteigen? Diese Frage haben wir Ybele Hoogeveen gestellt, dem Leiter eines Fachgebiets der Europäischen Umweltagentur (EUA), das sich mit den Auswirkungen von Ressourcennutzung auf die Umwelt und das Wohl der Menschen beschäftigt.

Im kürzlich veröffentlichten Indikatorenbericht der EUA werden Nahrungsmittel als eines der Hauptsysteme genannt, die sich auf die Umwelt auswirken. Was ist ein Nahrungsmittelsystem? Wie wirkt es sich auf uns aus?

Mit dem Begriff „Nahrungsmittelsystem" werden alle Prozesse und die Infrastruktur zusammengefasst, die wir für Herstellung und Konsum von Nahrungsmitteln geschaffen haben. Dazu gehören Landwirtschaft, Handel, Vertrieb, Transport und Verbrauch. Nahrung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Sie muss verfügbar sein, zudem hochwertig und zugänglich - also nicht verdorben - und bezahlbar.

Unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden stehen in engem Zusammenhang mit unserer Ernährung. Sowohl Mangelernährung als auch Fettleibigkeit sind Gesundheitsprobleme, die direkt auf die Ernährung zurückzuführen sind. Die Landwirtschaft trägt auch zum Klimawandel sowie der Luft- und Wasserverschmutzung bei, die sich allesamt indirekt auf die Gesundheit und das Wohl der Menschen auswirken.

Bei näherer Betrachtung sehen wir auch, dass die Landwirtschaft eine äußerst wichtige sozioökonomische Rolle spielt. In zahlreichen ländlichen Gemeinden ist sie das Rückgrat der örtlichen Wirtschaft, stellt eine gewisse Lebensweise und eine Interaktion mit der Natur mit hohem Kultur- und Erholungswert dar. Wie wir unsere Nahrungsmittel erzeugen, wirkt sich auf die Attraktivität unserer Landschaften aus.

Gibt es bestimmte Merkmale und Trends, die sich in Europa bei der Produktion und beim Konsum von Nahrungsmitteln abzeichnen?

Europa verfügt im Allgemeinen über moderne landwirtschaftliche Produktionssysteme und geeigneten Boden für die Landwirtschaft. Die Produktivität pro Hektar ist signifikant gestiegen, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der Vielfalt seiner landwirtschaftlichen Nutzflächen und Klimazonen stellt Europa verschiedenste Produkte her. Es ist  jedoch auch von Importen abhängig, vor allem bei Futtermitteln, frischem Obst und Gemüse. Im Gegenzug exportiert Europa vor allem verarbeitete Lebensmittelerzeugnisse.

Beim Konsum haben sich in den letzten Jahren einige Ernährungsgewohnheiten verändert. So ist etwa der Verzehr von rotem Fleisch in den letzten fünf Jahrzehnten stark gestiegen. Im Vergleich zu 1995 ist jedoch der Pro-Kopf-Konsum von Rindfleisch um 10 % gesunken. Europäer essen mehr Geflügel, Fisch und Meeresfrüchte, Obst und Gemüse.

Mit welchen Herausforderungen werden die Nahrungsmittelsysteme Europas in den nächsten Jahrzehnten konfrontiert sein?

Es gibt zwei zentrale Problempunkte in Europa. Der erste ist sozioökonomischer Natur. Durch Urbanisierung und die damit einhergehenden Änderungen der Lebensweise wird die Landwirtschaft als wirtschaftliche Aktivität zunehmend unattraktiver. Die Zahl der Landwirte in Europa sinkt, während ihr Durchschnittsalter steigt. Landwirtschaft, vor allem in Bereichen mit niedriger Produktivität, wird immer schwieriger. Landwirtschaftliche Nutzflächen werden aufgegeben und dies könnte in Gebieten, in denen die landwirtschaftliche Produktion zur Erhaltung der Natur beiträgt, Auswirkungen jenseits der lokalen Wirtschaft zur Folge haben.

Der zweite Problempunkt lautet Intensivierung. Damit meine ich höhere Erträge pro Hektar durch Hochskalierung, Mechanisierung, Trockenlegung, Bewässerung sowie Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden. Dies steigert die Wirtschaftlichkeit und bedeutet, dass wir weniger Agrarland brauchen. Andererseits verringert sich dadurch die Biodiversität der Agrarböden und die Verschmutzung von Böden, Flüssen und Seen nimmt zu.

Der Klimawandel wird sich ebenfalls auf die landwirtschaftliche Produktivität in Europa auswirken. Zahlreiche Regionen werden sich an Veränderungen der Vegetationsperioden und Niederschlagsmuster gewöhnen müssen.

Kann Europa von einer intensiven auf eine extensive Landwirtschaft umsteigen?

Ein Umstieg auf Systeme mit geringer Produktivität wäre unrealistisch und kontraproduktiv. Wir können uns keine wirtschaftlich oder ökologisch ineffiziente Landwirtschaft leisten. Gleichzeitig müssen wir die landwirtschaftsbedingte Verschmutzung reduzieren. Hier stehen wir vor einem Dilemma. Biologische Landwirtschaft (ohne Pestizide und Düngemittel) kann ebenfalls intensiv betrieben werden, der Ertrag liegt jedoch schätzungsweise 20 % unter jenem der intensiven konventionellen Landwirtschaft. Um dieselben Mengen an Nahrungsmitteln zu produzieren, müssten wir mehr Ackerland für die Landwirtschaft aufwenden.

Eine derartige Umstellung würde globale Auswirkungen mit sich bringen. Die EU ist einer der größten Nahrungsmittelhersteller und -exporteure; eine drastische Absatzverringerung würde sich auch auf die weltweite Produktion und somit auf die Nahrungsmittelpreise auswirken. Von einer Erhöhung der Nahrungsmittelpreise sind alle Gesellschaftsschichten und ganz besonders Familien mit geringem Einkommen betroffen. Dies widerspräche dem Ziel, Lebensmittel zugänglich und bezahlbar zu machen.

Wie sieht demnach der Idealfall aus?

Die Landwirtschaft wird immer eine der Haupttätigkeiten des Menschen bleiben, die sich auf die Umwelt auswirkt. Diese Auswirkungen lassen sich jedoch in mehrfacher Hinsicht verringern. Ein Übergang zu innovativen Produktionssystemen mit geringen Einträgen (z. B. durch biologische und Präzisionslandwirtschaft) scheint alles in allem der beste Weg zu sein.

Eine produktionsseitige Verbesserung wäre wahrscheinlich mit Blick auf den weltweit steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln, Faserstoffen und Energie nicht ausreichend. Wir brauchen zusätzliche Effizienzsteigerungen in anderen Bereichen des Nahrungsmittelsystems, etwa bei Transport, Vertrieb und Konsum.

Riesige Landflächen werden zur Herstellung von Futtermitteln für die Fleischproduktion verwendet. Eine Umstellung der Ernährung von weniger Fleisch hin zu mehr Gemüse würde sich sicherlich entlastend auf die weltweite Landnutzung auswirken. Ein weiteres Beispiel sind Lebensmittelabfälle. Zwischen 30 % und 40 % der erzeugten Nahrungsmittel werden in Europa verschwendet. Dies beginnt bereits auf dem Feld und setzt sich beim Transport und Vertrieb bis in unseren Haushalt fort. Wir verschwenden Land, Wasser und Energie für die Herstellung von Nahrungsmitteln, die wir nicht einmal konsumieren.

Die gemeinsame Agrarpolitik der EU spielt hier eine zentrale Rolle. Die jüngsten Reformen haben die Koppelung der Zahlungen an die Landwirte und ihrer Erträge weitgehend aufgehoben. Eine Einhaltung der Umweltschutzvorschriften ist nun Voraussetzung für den Anspruch auf Fördergelder und auch eine Reihe von „Greening"-Maßnahmen sind Pflicht. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, Überproduktion zu vermeiden und die Umwelt zu entlasten - es kann jedoch noch mehr getan werden, etwa die Abhängigkeit von Mineraldüngern und Pestiziden verringern.

Die Landwirtschaft steht zudem mit Energie (Biokraftstoffe), Wohnungsbau und städtischen Gebieten im Wettbewerb um Landflächen. Eine bessere Raumplanung - wo intensive und wo extensive, eintragsgeringe Landwirtschaft - würde ebenfalls zur einer effizienteren Landnutzung beitragen und uns weniger Umweltbelastungen aussetzen.

Alles in allem sieht der Idealfall eine effizientere Nutzung der verfügbaren Ressourcen vor, besonders von Land und Wasser. Unser kürzlich erschienener Indikatorenbericht befasst sich mit der Ressourcennutzung im weiteren Sinne und stellt eine Verbindung zwischen dem Nahrungsmittelsystem und anderen wesentlichen Systemen her: Energie, Haushalte und Materialien.

Ybele Hoogeveen

Interview veröffentlicht in der Ausgabe Nr. 2013/2 des EUA Newsletters Dezember 2013

Permalinks

Geographic coverage

Stichwörter

Dokumentaktionen